Betrug im Schach – Neue Ergebnisse aus der Wissenschaft  

Wer kennt es nicht: Man spielt in einem Turnier oder in einem Mannschaftswettkampf, und der Gegner verlässt das Brett, während man selbst in tiefes Nachdenken versunken ist. Man macht schließlich seinen Zug und wartet gespannt, wie der Gegner darauf reagiert. Nach zehn Minuten hat man bereits verschiedene Antwortzüge durchdacht – doch der Gegner ist immer noch nicht zurück. Ein seltsames Gefühl beschleicht einen. Weitere Zeit vergeht, aber weiterhin keine Spur vom Gegner. Man fragt sich: Holt er sich nur einen Kaffee, raucht er eine Zigarette – oder sucht er vielleicht heimlich Tipps von einer Schach-Engine auf der Toilette? Schließlich beginnt man, nach ihm zu suchen: im Analyseraum, im Sanitärbereich, überall. Meist enden solche Vorfälle völlig harmlos – die Leute standen eben 15 Minuten in der Schlange am Kaffeestand oder verquatschten sich bei einer Zigarette mit anderen Spielern. Ein Vereinsmitglied von uns hat es sogar geschafft, während seiner laufenden Bedenkzeit vor einem Fernseher in einer Hotellobby einzuschlafen. Dennoch ist das Thema Betrug im Schach in aller Munde und ist auch im Amateurbereich ein wichtiges Thema, was einen nie so richtig loslässt.

Anfang dieses Jahres ist ein wissenschaftlicher Artikel erschienen, der sich mit dem Thema Betrug im Schach in Deutschland beschäftigt. Da ich selbst Wissenschaftler aus Leidenschaft bin und die Ergebnisse für sehr relevant halte – sie haben bislang jedoch wenig Aufmerksamkeit erhalten –, habe ich mir die Mühe gemacht, die Studie für ein nicht-wissenschaftliches Publikum zusammenzufassen und meine persönlichen Erfahrungen einfließen zu lassen. Wer die Originalstudie in englischer Sprache von Kim Schu & Nils Haller von der Universität Mainz lesen möchte, findet den entsprechenden Link hier:

https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2211266925000271

Was wurde in der Studie untersucht?

Insgesamt wurden über 1.900 Schachspielerinnen und Schachspieler mithilfe von Fragebögen zu irregulärem Verhalten befragt. Unter irregulärem Verhalten verstand man unter anderem:

  • die Einnahme verbotener Substanzen wie Amphetamine, Ephedrin, Methylephedrin, Pseudoephedrin oder Modafinil,
  • die Nutzung technischer Geräte,
  • sowie das Einholen von Informationen durch andere Personen.

Darüber hinaus wurde unterschieden, ob das Fehlverhalten im Online-Schach oder im OTB-Schach (Over the Board – also am klassischen Schachbrett) vorkam, und ob es sich um Blitz-, Schnell- oder Standardschach handelte.

Was sind die zentralen Ergebnisse der Studie?

Bemerkung vorab: Die Ergebnisse zum Betrug im Online-Schach lasse ich unkommentiert. Als langjähriger Spieler der Lichess-Bundesliga und aufgrund zahlreicher Rückmeldungen zu Cheatern bin ich der Überzeugung, dass dort ohnehin „hinten und vorne“ betrogen wird. Deshalb nehme ich Online-Schach nicht mehr wirklich ernst – mit Ausnahme der sehr schnellen Disziplinen wie Bullet.

Für das klassische Schach zeigt die Studie, dass 7,1 % aller Befragten angaben, unerlaubte Hilfsmittel wie Schach-Engines oder Informationen von anderen Personen genutzt zu haben. Betrachtet man ausschließlich Partien mit längerer Bedenkzeit (Schnell- oder Standardschach) und lässt Blitzpartien außen vor, gaben sogar über 10 % der Teilnehmenden zu, betrogen zu haben. Diese Zahl hat mich sehr schockiert – statistisch bedeutet das, dass in jeder zehnten Langschach-Partie betrogen wird. Bei einem Open mit mehr als 100 Teilnehmenden ist es also ziemlich sicher, dass mindestens ein Fall von Betrug vorkommt.

Hinsichtlich der Einnahme verbotener Substanzen ergab die Befragung, dass
5 % der Spielerinnen und Spieler kognitives Doping nutzten, um ihre Leistung zu steigern. Zur Wirksamkeit dieser Substanzen zitieren die Autoren zudem eine interessante Studie: Dort zeigte sich, dass die Einnahme solcher Mittel insbesondere die Dauer pro Zug deutlich erhöhte, was sich nur eingeschränkt positiv auf die schachliche Leistung auswirkte. Denn nur wenn man Partien berücksichtigte, die nicht durch Zeitüberschreitung verloren gingen, ließ sich ein messbarer Vorteil feststellen. Mit anderen Worten: Solche Substanzen können zwar die Konzentrationsfähigkeit verbessern, erhöhen aber gleichzeitig den Zeitverbrauch – was wiederum eigene Risiken für den Ausgang einer Partie birgt.

Wie sind diese Ergebnisse einzuordnen?

Ich finde diese Ergebnisse bemerkenswert, insbesondere weil es sich um eine groß angelegte Befragung handelt. Zwar sind 1.900 Teilnehmer bei Panelbefragungen nicht außergewöhnlich, doch für den spezifischen Schachkontext – und vor allem unter der Bedingung, dass es sich ausschließlich um deutsche Schachspieler handelte, die eine Elo-Zahl besitzen und in den letzten zwölf Monaten mindestens eine OTB-Partie gespielt haben mussten – stellt dies bereits eine neue Dimension dar.

Zudem berücksichtigen die Autoren der Studie weitere Faktoren wie Alter, Spielstärke und Spielhäufigkeit. Interessanterweise hatten diese Variablen jedoch nur einen sehr geringen Einfluss auf die Ergebnisse.

Die hohe Häufigkeit von Betrug (rund 10 %) im deutschen Schach hat mich sehr erschreckt, vor allem wenn man bedenkt, dass die Dunkelziffer wohl noch deutlich höher liegt – schließlich wird nicht jeder im Fragebogen zugeben, dass er betrügt. Allerdings sollte man auch beachten, dass die Autoren beispielsweise die Absprache von Partieergebnissen im Vorfeld einer Begegnung (etwa eine vorher vereinbarte Remis-Partie) ebenfalls als irreguläres Verhalten gewertet haben. Insofern sollte die 10-%-Zahl sicherlich etwas relativiert werden.

Eigene Erfahrungen

Abschließend möchte ich die Ergebnisse durch Aspekte aus meiner eigenen Erfahrung mit Betrug im Schach ergänzen. Für mich persönlich steht nicht unbedingt der Gebrauch einer Engine im Vordergrund. Meiner Meinung nach wird viel häufiger auf Informationen von anderen Personen während einer Partie zurückgegriffen.

In den Turnieren, an denen ich teilgenommen habe, werden Spieler nur selten aufgrund der Nutzung eines Mobiltelefons disqualifiziert. Beim Gubener Neujahrsturnier – das mittlerweile nicht mehr stattfindet – kam es früher vereinzelt vor, dass ausländische Spieler disqualifiziert wurden, weil sie Handys benutzt hatten. Ansonsten habe ich keine weiteren Fälle erlebt. Zudem halte ich es für fraglich, wie effektiv eine solche Strategie wirklich wäre: Um während einer Partie nennenswerte Informationen zu erhalten, müsste man häufig die Toilette aufsuchen. Eine einmalige Handynutzung entscheidet daher in der Regel nicht unbedingt über den Ausgang einer Partie.

Hier noch drei Beispiele aus meiner eigenen Turniererfahrung:

  1. Vor einigen Jahren nahm ich an einem kleinen Turnier während der Corona-Pandemie in der Oberpfalz teil. Da es zu dieser Zeit generell wenige Turniere gab, hatten sich auch ehrgeizige Jugendspieler und ihre ebenso ehrgeizigen Eltern angemeldet. Mein Turnier verlief eher durchschnittlich. In einer Runde fiel mir jedoch eine besondere Beobachtung auf.

Das Turnier fand in einem urigen Gasthof statt, in dem es „dunkle Ecken“ gab, in denen einzelne Partien kaum einsehbar waren. In einer dieser Ecken spielte einer der ambitionierten Jugendspieler. Sein Betreuer oder Vater bewegte sich ständig um das Brett, verließ aber auch immer wieder den Spielsaal. Als der Gegner des Jugendspielers einmal nicht am Brett war, nutzten beide offenbar einen Moment der Unachtsamkeit für intensiven Blickkontakt. Der Vater rollte mit den Augen und machte wilde Kopfgesten, die ich nicht richtig interpretieren konnte. Der Junge wirkte etwas irritiert, machte aber ebenfalls Kopfgesten. Was dieses Verhalten bewirken sollte, ist mir bis heute unklar – eines steht jedoch fest: Sie haben betrogen. Der Junge hat heutzutage übrigens eine DWZ von weit über 2200.

  • Bei einem internationalen Turnier im Ausland spielte ich gegen einen sehr jungen Spieler aus Armenien mit einer Elo von etwa 1400, der seine Mutter dabei hatte, die ebenfalls ständig um das Brett kreiste. In einer Runde zuvor hatte der Junge bereits einen Vereinskameraden besiegt, sodass ich gewarnt war. Die Partie verlief für mich als deutlichen Elo-Favoriten zunächst recht zäh. Erst durch eine sehr lange und tiefgehende taktische Kombination konnte ich mir ein zumindest vorteilhaftes Endspiel erarbeiten. In dieser Phase wirkte der Junge zunehmend frustriert und suchte ständig Augenkontakt zu seiner Mutter. Plötzlich begann er, mit seinen Fingern über das Schachbrett zu wischen. Sein Finger blieb kurz auf dem Feld e1 stehen, während er Augenkontakt zu seiner Mutter aufnahm, die hinter mir stand. Ich erkannte die Situation schnell und drehte mich um, um die Kommunikation zwischen beiden zu unterbrechen. Der Junge zögerte nicht lange und zog Te1, was ein ziemlich guter Zug war. Dennoch war meine Stellung zu überlegen, sodass ich die Partie gewinnen konnte. Diese unerlaubte Kommunikation zwischen beiden war so auffällig, dass ich den Schiedsrichter informierte. Dieser beobachtete daraufhin beide sehr genau und ermahnte die Mutter. Danach war sie nur noch selten am Brett zu sehen, und der Junge konnte sein Turnier mit überdurchschnittlichen Ergebnissen abschließen. Auch hier stellt sich mir die Frage, welchen Nutzen diese Strategie tatsächlich hatte und warum sowohl die eigene Integrität als auch die seines Sohnes so stark aufs Spiel gesetzt wurde.
  • Beim dritten Beispiel habe ich selbst die Rolle des Schiedsrichters übernommen. Ein kleiner Junge kam zu mir und berichtete, dass sein Gegner draußen mit einem anderen Spieler über seine Partie gesprochen habe. Ich befragte daraufhin beide Spieler, die dies nur mit einem „nix verstehe“ quittierten. Zur Einordnung: Der Gegner des kleinen Jungen hatte keine DWZ und war ständig mit einem anderen Spieler draußen Rauchen, der knapp eine DWZ von 1900 hatte. Beide unterhielten sich in einer osteuropäischen Sprache. Deshalb fragte ich den Jungen, woher er wisse, dass sie über seine Partie gesprochen hätten. Er erklärte, dass seine Mutter russische Wurzeln habe und er ein wenig Russisch verstehe. Außerdem meinte er, gehört zu haben, dass beide sich über den Zug h5 unterhalten hätten. Als ich mir anschließend die Stellung des Jungen ansah, war der Zug h5 tatsächlich aufs Brett gekommen. Reicht das als Beweis, um jemanden wegen Betrugs zu disqualifizieren? Uns als Schiedsrichterteam hat es nicht gereicht. Ich wollte jedoch zumindest beiden Spielern klarmachen, dass ich sie beobachte, um weitere Absprachen zu verhindern. Daher blieb ich häufiger am Brett stehen und ließ sie nicht mehr aus den Augen. Danach wurden sie auch nicht mehr gemeinsam draußen beim Rauchen gesehen.

Wie diese Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung zeigen, ist für mich die unerlaubte Absprache oder Kommunikation zwischen zwei Personen während einer Partie problematischer als die reine Handynutzung.

Schließlich noch ein Hinweis für Mannschaftswettkämpfe: Wenn während noch laufender Partien draußen gemeinsam geraucht wird und dabei Sätze fallen wie „Du stehst aber schlecht“ oder „Du stehst komplett auf Gewinn“, gilt dies ebenfalls als unerlaubte Kommunikation und kann den Verlust der Partie nach sich ziehen.       

Dave Möwisch